Vom Leben

Vorhin, im eiligen Lauf, ich bemerkte es kaum, habe ich auf die Spinne getreten. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie sie weglaufen wollte. Reflexartiv, ohne genau zu wissen um was es sich handelt, wollte ich ausweichen. Zu spät. Die Spinne war platt.

Der Vogel, der die Spinne später aufgepickt hätte und somit etwas aufgehalten worden wäre, flog nun deshalb früher los. Die Runde ist er schon oft geflogen, zu einem nahgelegenen Park. Hier grenzt eine Wiese an, auf der es immer viele Würmer gab.

Im Flug über eine Straße, nahe des Kreuzungsbereiches, verlor er sein Exkrement. Es ist nicht so unwahrscheinlich und so traf dieses, als grosser Fleck nach dem Auftreffen, genau die Windschutzscheibe eines Rentnerfahrzeuges. Der Rentner war so irritiert, dass er abrupt gebremst hat. Das nachfolgende Fahrzeug konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, da der Fahrer einen Moment nicht nach vorne geschaut hatte. Der Auffahrunfall war kein Schwerer, obwohl ein leichter Ölfleck auf der Straße zurückblieb. Ein Ölfleck, der von niemandem beachtet wurde.

Stunden später, als ein Motorradfahrer sich genau dieser Stelle näherte, schaute dieser kurz zur Seite, weil er aus dem Augenwinkel einen kurzen Rock erblickt hatte. Die junge Frau hatte sich nur für den kurzen Rock entschieden, weil die E-Mail Ihres neuen Bekannten, der, wie sie hoffte, ihr fester Freund werden sollte, sie aufgrund eines Stromausfalles beim Provider nicht erreicht hatte. Er würde erst einen Tag später zurückkommen.

Der Strom war ausgefallen, weil in Angestellter in der Zentrale nicht aufpasst hatte. Die Anlage lief, wie schon so oft, während der kurzen Wartungsarbeiten, auf Handbetrieb. Nur, weil er gerade eine SMS bekam, bemerkte der Angestellte nicht, dass eine Leitung überlastet war. Der aufgetretene Fehler war schnell behoben - ist ja nichts passiert, dachte er bei sich.

Wenn nun der Strom nicht kurzzeitig ausgefallen wäre, der Fahrer nicht den kurzen Rock hätte erblicken können, hätte er rechtzeitig den Ölfleck gesehen und wäre ausgewichen. So aber kam er ins Rutschen.
Er hatte nur leichte Verletzungen, aber durch den zeitweilig entstandenen Rückstau kam auch die Straßenbahn nicht mehr durch.

Innerhalb einer Viertelstunde hatten sich bereits drei Straßenbahnen gestaut.
Der junge Mannn, der am Bahnhof mit seiner Freundin verabredet war, wurde zunehmend ungeduldig. Erreichen konnte er sie auch nicht. Die junge Frau, die am Bahnhof lange gewartet hat, entschied sich in der Zwischenzeit ein nahegelegenes Cafe aufzusuchen. Hier lernte sie einen jungen Mann kennen und wenige Tage später machte sie mit ihrem Freund Schluß.

Zurück zu den Straßenbahnen. Die immer länger werdende Schlange hinter den Straßenbahnen ließ die wartenden Autofahrer immer ungeduldiger werden. Ein Wenden war unmöglich, da sich auf der anderen Fahrbahnseite eine Baustelle befand.
Irgendwann hatte der jung-dynamische Autofahrer, der auf dem Weg zum ersten date mit seiner neuen Internet-Bekanntschaft war und auf keinen Fall zu spät kommen wollte, die Geduld verloren. Mit aufheulendem Motor raste er an den Straßenbahnen vorbei. Genau in dem Moment gab eine Wolke die Sonne frei und er übersah das rote Licht der Ampelanlage.

Der Fußgänger, der die Mitte der Straße ereicht hatte, hörte zwar dunkel den aufheulenden Motor, aber die warnenden Rufe erreichten ihn nicht mehr. Es war nicht allein die Lautstärke der Kopfhörer, die ihn all das nicht hören ließen, sondern viel mehr war es die Musik, die ihn schweben ließ. Er war verliebt. Er hatte sich die per E-Mail von seiner Angebeteten erhaltenen Musikstücke auf seinen MP3 Player kopiert. Gänzlich versunken war er. Später noch, sogar im Krankenwagen, als das irdische Leben ihn verließ, sprachen die Helfer vom glücklichen Gesichtsausdruck des Gestorbenen.



Wenn
Wenn die Angebetete die Musikstücke später geschickt hätte,
oder wenn nicht genau in dem Moment die Wolke die Sonne freigegeben hätte,
oder wenn der Fahrer die Geduld aufgebracht hätte,
oder wenn der Provider keinen kurzen Stromausfall gehabt hätte,
wenn die Softwarefirma die Wartungsarbeiten nur Minuten oder Sekunden später oder früher ausgeführt hätte,
wenn der Angestellte nicht genau in dem Moment eine sms bekommen hätte.
oder wenn sie sich trotzdem gegen den kurzen Rock entschieden hätte,
oder wenn der Motorradfahrer nicht, wider besseres Wissen, zu Seite geschaut hätte,
oder wenn ...

ich nicht auf die Spinne getreten hätte,

dann ...........

"hätte, wäre, wenn"

"Vorhin" ist ein Synonym. Es ist nicht wörtlich zu nehmen. Dort könnte auch gestern oder letzte Woche oder etwas anderes stehen.

Wenn du nicht auf die Spinne getreten wärest, hätte der Vogel eine achtbeinige Vorspeise genossen und wäre ein paar Minuten später zum Wurmpark geflogen, ohne dem Rentner auf die Windschutzscheibe zu kacken. Stattdessen wäre ihm ein Steinchen in die Scheibe geflogen, von den Reifen eines voranfahrendes Fahrzeuges hochgeschleudert. Es wäre zu einem Auffahrunfall gekommen, bei dem niemand verletzt wurde, lediglich ein kleiner Ölfleck würde zurück bleiben.......

....... Stunden später näherte sich ein Motorradfahrer dieser Stelle und schaute kurz zur Seite, weil er wippendes blondes Haar entdeckte. Das wippende blonde Haar gehörte zu einer jungen Frau, die gerade auf dem Weg in den Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt war, wo sie bereits sehnsüchtig erwartet wurde um für eine knappe Stunde, getrennt durch vergittertes Glas und unter aufmerksamer Beobachtung, stumm lächelnd versunken in graublaue Augen zu schauen.

Der Motorradfahrer sah also diesen Ölfleck nicht und stürzte. Eine nie entdeckte stumm schlummernde Verletzung im unteren Drittel der Wirbelsäule, bei einem lang zurückliegenden Sturz zugezogen, beschloss ihr Schweigen aufzugeben. Als der Krankenwagen eintraf, konnte der Motorradfahrer seine Beine nicht mehr spüren und würde es niemals wieder können. Es dauerte lange Monate, bis er seinen Lebensmut wiederfand und dem Heiratswunsch seiner Freundin stimmte er nach sechs weiteren Monaten zu. Eine kleine Feier war es, nur die engsten Verwandten und eine Handvoll Freunde, die besten, die man sich nur wünschen kann.

Drei Straßenbahnen hatten sich gestaut, bis der Motorradfahrer abtransportiert war und der Verkehrsstau sich langsam auflöste. Der junge Mann, der mit seiner Freundin am Bahnhof verabredete war, vertrieb sich die Zeit mit einem heftigen Flirt. Die Kleine war aber auch wirklich zuckersüß. Als die Straßenbahnen endlich wieder anfuhren, stiegen der junge Mann und die süße Kleine gemeinsam aus und suchten das Café an der Straßenecke auf. Die Freundin des jungen Mann wartete vergeblich. Drei Wochen später verzieh sie ihrem Freund den Seitensprung, weitere drei Monate trennte sich das Paar nach einem weiteren Seitensprung des jungen Mannes. Dass er sich mit AIDS infiziert hatte, erfuhr er ein dreiviertel Jahr später während einer Routineuntersuchung. Seine ehemalige Freundin erhielt ihr positives Ergebnis kurz darauf.

Zurück zu den Straßenbahnen: Vollkommen genervt scherte ein Autofahrer aus, um die zögerlich anfahrenden Straßenbahnen zu überholen. Er wollte auf keinen Fall zu seinem ersten Date mit seiner Internetbekanntschaft zu spät kommen. Wo lag dieses Café genau? Er warf einen hastigen Blick auf die Skizze, die sie ihm geschickt hatte und so kam es, dass er den jungen Mann übersah, der gerade mit versonnenem Lächeln auf die Fahrbahn trat.

Der junge Mann mit dem versonnenen Lächeln bemerkte das Auto nicht, die tiefstehende Sonne blendete ihn. Hören konnte er den aufheulenden Motor auch nicht, die Kopfhörer, die in seinen Ohren steckten, hielten alle Umgebungsgeräusche fern. Das versonnene Lächeln vertiefte sich, er träumte vor sich hin, die Musikstücke im Ohr, die seine Süße ihm per E-Mail geschickt hatte.

Der ungeduldige Autofahrer riss den Blick von der Zeichnung, wurde des Fußgängers gewahr, trat entsetzt mit aller Macht auf die Bremse. Der Wagen scherte aus, rutschte um Haaresbreite an dem lächelnden Fußgänger vorbei und krachte in einen gerade aus der Baustelle kommenden Bagger.

Im Krankenhaus war die junge Frau die erste, über das Handy über den Unfall verständigt, die ihren Namen auf den Gips des Autofahrers schrieb. Am Abend verabredeten die beiden ein neues Date.

Der versonnen lächelnde Mann schüttelte erschrocken den Kopf, das Geräusch von Blech auf Blech hatte sich an den Musikklängen vorbei einen Weg gebahnt. Einen Moment hielt er inne, vertieft in Gedanken. Was wäre wenn...., hätte geschehen können, wenn....

Als ich einmal einer Raupe ausweichen wollte, streifte ich einen Ast, auf dem ein Schmetterling saß. Aufgeschreckt schlug er mit den Flügeln und löste eine Woche später einen Wirbelsturm aus. Als ich die Bilder der Toten sah, fühlte ich mich schuldig, denn das Unglück wäre ausgeblieben, hätte ich danach meinen MP3-Player etwas leiser gestellt.